von Boris Karnikowski
Kreativ sein trotz Einschränkungen: 2) Neue Inspiration finden
von Boris Karnikowski
Kreativ sein trotz Einschränkungen: 2) Neue Inspiration finden
Es fällt im Moment oft schwer, sich wieder darauf zu besinnen, aber: in den Beschränkungen, die wir gerade erleben, liegen auch kreative Chancen. Inmitten unseres stark verkleinerten fotografischen Radius‘ und des sattsam bekannten Alltäglichen können wir versuchen, neue Inspiration zu finden. Unsere Autorin Monika Andrae hat sich in ihrem Buch „Die sieben Todsünden der Fotografie“ dazu Gedanken gemacht und die Einschränkung zur Tugend erklärt – als Kontrastprogramm zu dem Höher, Schneller, Weiter, das uns oft bei der Suche nach neuen Motiven treibt.
(Auszug aus »Die sieben Todsünden der Fotografie«, dpunkt.verlag 2017)
Der eiserne Fotograf
Um passende Übungen zu Einschränkung zu finden, kann man auch einmal in ganz anderen kreativen Disziplinen als der Fotografie ein paar Anleihen machen. Zwischen 1993 und 1999 lief im japanischen Fernsehen eine Kochsendung, deren Titel sich sinngemäß mit »Der eiserne Küchenchef« übersetzen ließ. Dabei wurden sieben quasi zum Sendungsinventar gehörende »eiserne Köche« von Gästen zu einem Wettkochen herausgefordert. Sieger wurde, wer zu einembestimmten kulinarischen Thema und mit den vorgegebenen Zutaten das leckerste Gericht kochen konnte. Um dem noch die Krone aufzusetzen und die Sendungslänge zu begrenzen, musste das Ganze in einer vorgegebenen Zeit erledigt werden.
Die Show hatte in Japan Kultstatus und das Format fand Nachahmerin der ganzen Welt. In Deutschland hieß die Sendung meines Wissens »Das Kochduell«. Ein besonderes Merkmal dieser Kochduelle war es, dass die Zutaten oft exotisch waren und scheinbar überhaupt nicht zusammenpassten. Die Ergebnisse dagegen ließen mir ein ums andere Mal vor dem Fernseher das Wasser im Munde zusammenlaufen. Offensichtlich hatte der olfaktorische Spagat zu interessantesten Ergebnissen geführt.
Kreative Menschen aus dem fotografischen Universum haben das Potenzial dieser Übung natürlich sofort erkannt und angepasst. Aus dem eisernen Koch ward der eiserne Fotograf geboren. Die Übung lautet ab sofort nicht mehr: Kreiere ein Gericht aus den vorgegebenen Zutaten, sondern mache ein Foto, das die vorgegebenen Elemente enthält. Und wie beim Kochen geht es natürlich nur vordergründig darum, dass alles drin ist. Wichtig ist vor allem, dass das Ergebnis möglichst schmackhaft ist.
Vorgaben beim eisernen Fotografen können additiv sein, also Dinge auflisten, die im Bild vorkommen sollen (Beispiel 1). Genauso funktioniert aber auch die Kombination mit dem bewussten Ausschließen von Elementen (Beispiel 2) oder das Aufnehmen von Aspekten, die sich bildlich nicht darstellen lassen (Beispiel 3).
Beispiel 1:
1. Eine Silhouette
2. Etwas aus dem Badezimmer
3. Partielle Überbelichtung
Beispiel 2:
1. Wasser
2. Keine Tropfen
3. Unschärfe (ganz oder partiell)
Beispiel 3:
1. Natur
2. Indirektes Licht
3. Das Bild symbolisiert eine Zeile aus Ihrem Lieblingslied
Sie können sich diese Vorgaben selbst geben, Freunde und Verwandte bitten, Sie möglichst fantasievoll einzuschränken, oder auch Fotosharing-Plattformen wie Flickr nach Gruppen durchsuchen, die sich zwecks Übung derlei Aufgaben stellen (ja, die gibt es). Besonderen Spaß macht es, sich der Herausforderung nicht alleine, sondern in kleinen Gruppen zu stellen und am Ende die Ergebnisse zu vergleichen.
Tipp
Ein Blick über den Tellerrand lohnt sich: Auch im Spielwarenladen gibt es Hilfsmittel, mit denen man sich nach einem ähnlichen Prinzip immer neue Aufgaben zusammenstellen kann. Das Würfelspiel Rory’s Story Cubes®7 – eigentlich gedacht, um die Lust am Geschichtenerzählen zu fördern – funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip. Ein bis neun Symbolwürfel werden geworfen und die gezeigten Bilder müssen anschließend in eine Geschichte eingebaut werden. Was spricht dagegen, die Geschichten fotografisch zu erzählen?
Wenn Sie des Englischen mächtig sind, können Sie sich auch von einer Smartphone-App Begriffe zusammenstellen lassen. Anwendungen wie z. B. »The Brainstormer« gibt es sowohl für iOS als auch für Android.
Inspiration durch Schlagzeilen
Die Welt ist voll von Geschichten, die illustriert werden wollen, und viele davon eignen sich wunderbar als kreative Übung durch Einschränkungen beziehungsweise Vorgaben. Auf Workshops lasse ich manchmal Teilnehmer aus dem Kontext gerissene Schlagzeilen visualisieren. Manche Zeitungen haben wirkliche Perlen zu bieten – mein persönlicher Favorit beim Schlagzeilensammeln ist das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Ich habe immer einen kleinen Vorrat ausgeschnittener Schlagzeilen in einer Mappe, man weiß nie, wann man sie mal braucht.
Filzen Sie Ihre Tageszeitung oder durchsuchen Sie das Internet nach knackigen Überschriften. Picken Sie sich ein oder zwei Beispiele für einen Nachmittag oder auch ein Wochenende heraus. Schießen Sie ein oder mehrere Bilder, die dazu passen und die Schlagzeile als Titel tragen könnten. Sie werden sehen, die erste Reaktion ist oft »das kann doch nicht wahr sein!« – aber der Zorn verraucht schnell, sobald die ersten Bildideen kommen. Viel Spaß!
Sechs-Wort-Geschichten
Sich kurz zu fassen, ist wahrlich eine Kunst. Und so lautet die Legende, Hemingway habe eine Wette gewonnen, indem er eine Geschichte mit nur sechs Worten erzählte: „For sale: Baby shoes, never worn“ („zu verkaufen: Babyschuhe, nie getragen“). Es ist interessant, wie wenig Worte man tatsächlich benötigt, um im Kopf des Lesers Bilder entstehen zu lassen. Fotografisch kann man diese kürzesten aller Geschichten auf zwei Arten nutzen.
Sie verfahren damit ähnlich wie mit den Zeitungsüberschriften und bebildern diese Geschichten – ganz egal, ob Sie diese selbst geschrieben haben oder auf existierende Zeilen zurückgreifen. Sie suchen sich ein paar Ihrer Bilder heraus und versuchen, zu ihnen passende Sechs-Wort-Geschichten zu texten. Vielleicht gelingt es Ihnen, daraus eine ganze Serie zusammenzustellen?
Wenn Sie sich Ihre Bilder einmal unter einem anderen Aspekt ansehen, bekommen Sie möglicherweise einen neuen, einen anderen Zugang zu den abgebildeten Motiven. Es hilft Ihnen, Struktur in die Sammlung zu bringen, und kann auch dazu führen, dass Sie auf Basis dieser Ordnung Ideen für neue Projekte entwickeln.
Wenn Ihnen die vorher aufgeführten Übungen alle zu verrückt erscheinen, können Sie Beschränkung und Vorgaben auch mit ganz einfachen Mitteln erreichen. Limitieren Sie sich einfach für Ihren nächsten Fotoausflug in Ihren Möglichkeiten, indem Sie sich auf eine einzige Brennweite festlegen. Machen Sie ein Wochenende nur Bilder mit einem 50-mm-Standardobjektiv. Oder mit einem 24-mm-Weitwinkel. Verwenden Sie bewusst kein Zoomobjektiv – die Versuchung, doch am Zoomring zu drehen, ist einfach zu groß. Bonuspunkte gibt es, wenn Sie eine oft vernachlässigte Linse auswählen.
Anfangs wird Sie diese Einschränkung irritieren – und genau das soll ja auch passieren. Nach und nach werden Sie feststellen, dass Sie gezwungen werden, Ihre Motive mit anderen Augen zu sehen. Sie werden sich beim Einfangen Ihrer Bilder anders bewegen, andere Dinge ausprobieren und wahrscheinlich irgendwann auch andere Dinge fotografieren. Brechen Sie mit Ihren fotografischen Gewohnheiten. Tun Sie das regelmäßig. Sie werden sehen, Ihre innere Auflehnung gegen diese Beschränkung wird Sie zu neuen Bildern und anderen Ansätzen der Bildgestaltung führen.
Solche oder ähnliche Techniken der bewussten Verknappung von Möglichkeiten stellen kein Patentrezept für kreative Ideen dar. Es geht lediglich darum, gute Bedingungen dafür zu schaffen, dass Ihr Denken ab und zu die Richtung ändert. Oft lassen sich so existierende Blockaden abbauen. Kreativität im allgemeinen oder eine zündende Idee im Besonderen lassen sich nicht erzwingen. Kreativitätstechniken können aber eine spielerische und offene Atmosphäre schaffen, in der originelle Ideen eher zum Vorschein kommen.
Wenn Sie regelmäßig Zeit für spielerische Übungen einbauen und das mit Arbeit an den handwerklichen Aspekten oder Dingen wie gründliche Vorbereitung oder Recherche kombinieren, haben Sie viele Trümpfe für gute Bilder in der Hand.
Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus dem Buch »Die sieben Todsünden der Fotografie«
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